Bildung für alle durch Anerkennung der neurologischen Variabilität
Im Rahmen des SIMPL4ALL-Projekts wurde es für notwendig erachtet, das Konzept der neurologischen Variabilität oder Neurodiversität einzuführen, um eine Bildung zu strukturieren, die wirklich „für alle“ ist. Aber woher kommt dieses Konzept? Es wird in der aktuellen Debatte über neurologische Entwicklungsstörungen und atypische Entwicklung zunehmend diskutiert, oft falsch oder widersprüchlich, aber ohne seine Tragweite und enorme integrative Kraft (real und nicht nur nominal) wirklich zu verstehen. In der Tat „betrachtet dieser Begriff in Analogie zur Biodiversität die atypische Entwicklung als individuelle Variation in der Entwicklung und als Ergebnis eines natürlichen Drucks des Lebens, sich mit kleinen Variationen in seinen Formen zu replizieren“ (Orsolini, 2019 S. 33). Allerdings ist nicht allen, auch nicht denen in der Behindertenbewegung, bewusst, wie dieser Begriff entstanden ist und vor allem, was er bedeutet. Innerhalb von Interessengruppen kommt es häufig zu Missverständnissen, die sich zu begrifflichen Verirrungen und echten internen Kämpfen auswachsen können, wie z. B. das „Denken in Gegensätzen“ (Dewey, 1938) Neurotypische vs. Neuroatypische und die absurde Opposition zwischen Interessengruppen von Eltern und Menschen mit Behinderungen selbst in einer erneuten Eltern-Kind-Opposition sowie die allgemeinere Opposition zwischen Gesundheitsfachkräften und Betroffenen.
Sprachliche Fragen: NT vs. ND; Eltern vs. Kinder ues: NT vs ND; Parents vs Children
Um Ordnung in diese Gegensätze zu bringen, sind einige terminologische Klärungen dringend notwendig. Der Begriff neurotypisch oder NT wurde innerhalb der Bewegungen derjenigen Menschen geschaffen, die sich im Paradigma der Neurodiversität wiedererkennen und sich im Gegensatz zu ihnen als neurodivergent oder neuroatypisch bezeichnen. Es ist jedoch Vorsicht geboten, da diese Begriffe, die ähnlich erscheinen, in Wirklichkeit nicht streng synonym sind. In Anlehnung an die australische Soziologin und Autistin Judy Singer, die allgemein als Begründerin des Paradigmas der Neurodiversität gilt, kann man sagen, dass der Begriff Neurodiversität „kein Instrument ist, um uns von ihnen zu trennen“, und dass sich Neurodiversität „speziell auf die grenzenlose Variabilität der menschlichen Kognition und die Einzigartigkeit jedes menschlichen Geistes bezieht“. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass wir alle neurodivers sind, denn keine zwei Menschen auf der Welt haben die gleichen kognitiven Funktionen.
Es stellt sich jedoch eine Frage. Wenn es richtig ist zu sagen, dass wir alle neurodivers sind, dann ist es jedoch nicht richtig zu sagen, dass wir alle neuroatypisch oder neurodivergent sind, genauso wenig wie es richtig ist zu sagen, dass „wir alle irgendwie autistisch, hyperaktiv oder legasthenisch oder sogar behindert sind“. Wie kann man dann die neurologische Vielfalt, die Neuroatypizität und das gesamte Spektrum der Störungen, die im DSM-5 als echte psychiatrische Diagnosen aufgeführt sind (Autismus-Spektrum-Störung, Legasthenie, Dysgraphie, ADHS usw.), die zu Beeinträchtigungen führen und sich an den Extremen einer normalen Bevölkerungsverteilung befinden, kombinieren? Zur Klärung dieses Punktes hilft uns das Konzept des Spektrums, das diese Unterschiede auf einem Kontinuum von Störungen bis hin zu umfassenden Phänotypen ansiedelt.
Erste Sprache der Person und erste Sprache der Identität tity First Language
Auch in diesem Fall ist ein korrekter Sprachgebrauch sehr wichtig, den wir in Person First Language und Identity First Language unterteilen können. Im ersten Fall erschöpft sich die Person nicht in dem, was primär als Beeinträchtigung angesehen wird, und man spricht daher von „Person mit…“. Diese Sprache ist charakteristisch für Elternverbände und einige Befürworter wie Donna Williams (1999). Im zweiten Fall wird das, was im Wesentlichen als Zustand angesehen wird, identifiziert, definiert die Person und „ist Teil dessen, was sie ist“ (Grandin, 1995).
Die Verwendung einer „Identity First Language“ ist in Interessengruppen für Menschen mit Behinderungen weit verbreitet, da sie ihre Neuroatypizität aus einer Identitätsperspektive und als soziale benachteiligte Gruppe einfordern. Zu vermeiden sind stattdessen alle aufdringlichen Ausdrücke wie: ‚Betroffen von…‘, ‚Betroffen von…‘, ‚Leiden an…‘ oder noch schlimmer ‚Krank an…‘, die nicht zu Unrecht von allen in der Interessenvertretung Tätigen und generell von allen Betroffenen verachtet werden. Aber wenn die Sprache des Leidens ohnehin bekämpft werden soll, wer hat dann Recht? Beeinträchtigung oder Zustand?
Wenn im Sinne des sozialen Modells von Beeinträchtigung, bei dem Beeinträchtigung durch die Interaktion der verschiedenen oder störenden Merkmale der Person in Wechselwirkung mit der Umwelt gegeben ist, die Verwendung der Sprache „Person zuerst“ (d.h. „Person mit einer Beeinträchtigung“, da sich die Person nicht in der Beeinträchtigung erschöpft) richtiger erscheint als das Dilemma von „Störung“ oder „Zustand“, kann argumentiert werden, dass beide Terminologien gültig sind und dass sie nicht als Gegensätze gedacht werden sollten. Im Rahmen des Paradigmas der Neurodiversität sind Autismus und neurologische Entwicklungsstörungen im Wesentlichen Zustände, die zu einer Beeinträchtigung werden können, wenn persönliche Merkmale (biologische und psychologische Variablen) mit der Umwelt (soziale Variablen) interagieren und dadurch erhebliche Schwierigkeiten in der Funktionsweise der Person verursachen.
Es liegt dann im Ermessen des Einzelnen, wie sehr er sich durch seinen Zustand gestört fühlt.

Frage der Modelle: Stakehoder vs. Fachleute
Historisch gesehen kann die Forschung und Intervention auf dem Gebiet der neurologischen Entwicklungsstörungen und der atypischen Entwicklung als ein Pendel dargestellt werden, das innerhalb des Binoms „Natur-Kultur“ geschwungen hat, indem es sich abwechselnd zunächst auf kulturbezogene Variablen und damit auf all jene Prozesse konzentrierte, die mit interpsychischen Beziehungen (Faktoren außerhalb des Individuums) verbunden sind, und dann auf naturbezogene Variablen und damit auf all jene individuellen biologischen und intrapsychischen Unterschiede (innerhalb des Individuums), die die typische oder atypische Entwicklung des Individuums bestimmen.
This is a long and tortuous process (like any scientific and cultural process) and part of a debate that has been going on since at least the middle of the last century, but which has seen important steps forward combined with many missteps. The concept of Neurodiversity stands right within this debate as a milestone for a new concept that can bring together the two main actors in this process: stakeholders and practitioners. It is a concept capable of considering all three variables that have historically been analysed: psychological, social, and biological within a single paradigm defined as the ‚Bio-psycho-social Model‘, which aims to analyse diversities in opposition to the ‚Medical Model‘, which instead appears to be centred solely on the identification of deficits that determine atypical development. The pendulum however, as stated by Judy Singer herself, with the introduction of the concept of Neurodiversity begins to swing back to the side of biology, although no longer from a deficit perspective but from a diversity perspective, this time with a decidedly positive connotation. The concept of Neurodiversity as stated by the author herself „is not a psycho-medical diagnosis but a sociological concept that can provide neurological minorities with „an analytical lens to examine social issues such as inequality and discrimination“. In this sense, the step forward is remarkable in that atypical development can now also be considered as an alterity of typical development and no longer solely and exclusively as a minus. Happy and prophetic in this sense appears to be an expression of the Austrian physician Hans Asperger who already in 1938 (Asperger, 1944) stated with a certain confidence, defending his young autistic patients from the Nazi eugenic plan: ‚Different does not mean inferior‘.
However, Judy Singer herself realised over time that „like any movement that tries to elaborate a Grand Theory of Everything, the social model also has its fundamentalist and extremist tendencies“ that are conceived in opposition to health professionals. This tendency is openly condemned by the author who reminds us that „it was researchers in the field of medicine, starting with the doctors Hans Asperger, Lorna Wing, Simon Baron-Cohen and Oliver Sacks, and psychologists, in particular Tony Attwood who laid the foundations that allowed autistic people and their families to recognise each other and form their own movement“. Furthermore, with respect to the scepticism about biology found in some extremist fringes, he points out that ‚it was neuroscience that legitimised us, and it was the language of neuroscience and computer science that was the source of powerful metaphors for our movement‘.

Woher kommt das Konzept der Neurodiversität?
Es ist kein Zufall, dass einer der Pioniere des Autismus im Zusammenhang mit dem Konzept der Neurodiversität zitiert wird, denn es war innerhalb der entstehenden autistischen Gemeinschaft um die Jahrtausendwende, als dieses Konzept Gestalt annahm und entwickelt und strukturiert wurde. Wir befinden uns in der Zeit nach der allgemeinen Anerkennung des Scheiterns der psychoanalytischen Theorien von Bruno Bettelheim durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, der zunächst im Einvernehmen mit dem anderen Autismus-Pionier Leo Kanner (Kanner, 1943) die Ursache des Autismus auf die so genannten „Kühlschrankmütter“ (Bettelheim, 1967) zurückgeführt hatte, die Autismus mit einer gewissen Kälte der Eltern (und insbesondere der Mütter) gegenüber ihren Kindern in Verbindung brachten. Mit einem unglaublichen wissenschaftlichen Reduktionismus identifizierte der betreffende Wissenschaftler das Defizit in den sozialen und psychologischen Variablen und insbesondere in einer „defekten Bindung“ (Bowlby 1969) in der Mutter-Kind-Beziehung; eine Bindung, die dann die spätere atypische Entwicklung und das Auftreten der Autismus-Störung bestimmen würde. Es war eine gefährliche Analyse psychologischer und sozialer Variablen allein mit einer offensichtlichen Verwirrung der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen ihnen.
Was hatten Kanner, Bettelheim und so viele andere Gelehrte gesehen, das sie in die Irre geführt hatte? Kurioserweise prägte die australische Soziologiestudentin Judy Singer etwa dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Bruno Bettelheims Theorien den Begriff Neurodiversität aufgrund ihrer turbulenten Beziehung zu ihrer Mutter mit Autismus-Spektrum-Störung in einem 1998 in der Zeitschrift Disability Discourse veröffentlichten Artikel, dessen Titel sich direkt auf einen vorwurfsvollen Satz bezieht, den sie und ihr Vater an ihre Mutter zu richten pflegten: „Warum kannst du dich nicht einmal in deinem Leben wie ein normaler Mensch benehmen? Von einem namenlosen Problem zum Entstehen einer neuen Kategorie der Differenz. (Valtellina, 2020, S. 45). Ihr gebührt sicherlich das Verdienst, den Begriff geprägt zu haben, den sie in wenigen, aber prägnanten Worten einführt:
Für mich liegt die zentrale Bedeutung des „Autismus-Spektrums“ in seinem Anspruch, eine Politik der „Neurologischen Vielfalt“ oder „Neurodiversität“ vorwegzunehmen. Neurologisch vielfältig“ ist eine Ergänzung zu den bereits bekannten politischen Kategorien Klasse/Geschlecht/Rasse und wird das Bewusstsein für das soziale Modell von Behinderung schärfen.
Mit der Entwicklung der Neurodiversität erreicht die postmoderne Fragmentierung die nächste Stufe. So wie in der Postmoderne gelegentlich ein allzu fest verwurzelter Glaube in die Luft fliegt, so sind auch jene Überzeugungen, die wir für selbstverständlich halten, im Begriff zu verschwinden: die Tatsache, dass wir alle auf die gleiche Weise sehen, hören, berühren, riechen und Informationen aufnehmen (es sei denn, wir sind sichtbar behindert).
(Judy Singer, 1998)
Wir sind Lichtjahre entfernt vom Kontext der psychoanalytischen Kliniken, von den Palästen der Medizin und sogar von der Verhaltenspsychologie, die sich bei der Untersuchung und Behandlung der klassischen Autismus-Spektrum-Störung durchsetzt, und nicht nur dort. Wir befinden uns in den Disability Studies, und das Vergrößerungsglas ist nicht medizinisch, sondern soziologisch und anthropologisch. Judy Singer war die erste, die den Begriff Neurodiversität geprägt hat und dabei eine soziologische, aber vor allem biologische und genealogische Perspektive eingenommen hat. In diesem Sinne ist ein wichtiger Bezugspunkt Asperger, der in seinem Aufsatz von 1944 erstmals eine solche Position vertrat, die heute im Lichte der Neurodiversität fast prophetisch klingt:
Wir fanden unter diesen Kindern oft Nachkommen bedeutender Wissenschaftler- und Künstlerfamilien, manchmal hatte man den Eindruck, dass in dem Kind nur die Macken und Eigenarten vergangener Größe verblieben, die auch bei großen Wissenschaftlern oft vorhanden sind. Viele dieser Väter hatten trotz ihrer beträchtlichen Exzentrizität hohe Positionen inne, was zur Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Persönlichkeitstyps beiträgt […] ein individualpsychologisch orientierter Beobachter würde das ganze Bild des autistischen Zustands aus der Situation eines Einzelkindes erklären und darin eine exogene Ursache sehen [. …] aber wie in so vielen anderen Zusammenhängen verwechselt der individualpsychologische Ansatz Ursache und Wirkung […] wer zudem weiß, dass sich autistische Kinder, die unter Geschwistern aufwachsen, genau so entwickeln wie Einzelkinder, kann eine Erklärung, die auf einer exogenen Ursache beruht, nur absurd finden. Nein, die Tatsache, dass diese Kinder autistisch sind, liegt nicht an den ungünstigen erzieherischen Einflüssen, denen ein Kind ohne Geschwister ausgesetzt ist, sondern hat ihre Grundlage in den Prädispositionen, die von Eltern vererbt werden, die selbst autistisch sind.
(Hans Asperger, 1944)
Der ursprüngliche Beitrag von Judy Singer, in dessen Kontext das Konzept der Neurodiversität entstanden ist, ist jedoch nicht ihr Artikel von 1998, sondern eine Arbeit, die diesem vorausging und deren Entstehung möglicherweise ein ganzes Leben gedauert hat. Es handelt sich um die stark autobiografisch geprägten Passagen seiner zwischen 1996 und 1997 verfassten und 1998 offiziell eingereichten Dissertation in Soziologie mit dem Titel „Strange People. Das Entstehen einer Gemeinschaft von Menschen auf dem autistischen Spektrum“. Eine persönliche Erkundung einer neuen sozialen Bewegung auf der Grundlage neurologischer Vielfalt“ (Singer, 2016). Obwohl diese Arbeit schon seit Jahren existiert, weist sie mehrere originelle Elemente auf. Ein erstes Element sind die konzeptionellen Übergänge, die die australische Wissenschaftlerin in ihrer eigenen Haut erlebt hat. In ihrer Kindheit war sie ein exzentrisches Kind, die Tochter einer Mutter mit besonders sonderbarem Verhalten, die wiederum Mutter eines Kindes mit atypischer Entwicklung wurde, das dann mit viel Mühe als Autismus-Spektrum-Störung der Stufe 1 eingestuft wurde (Asperger-Syndrom für DSM-IV-TR-Nostalgiker). Wie in vielen ähnlichen Fällen war es die Diagnose der Tochter, die sie zuerst zu der Entdeckung führte, dass ihre Mutter auf dem Spektrum war, und dann, als Sahnehäubchen, ihre eigene Klassifizierung „irgendwo auf dem Spektrum“ (Singer, 2016).
Ein zweites Element der Originalität besteht in der Art und Weise, wie Judy Singer ihre Forschung für ihre Abschlussarbeit durchführte, indem sie sich als Teilnehmerin in die autistische Gemeinschaft einfügte, und zwar in das Forum Independent Living on the Autistic Spectrum (abgekürzt InLv), eine von Martijn Dekker gegründete Selbsthilfegruppe. Heute würden wir die von Judy Singer durchgeführte Forschung als Aktionsforschung bezeichnen (Lucisano, & Salerni, 2004), und die australische Forscherin selbst legt großen Wert darauf, in ihrem Text die grundlegenden Beiträge zu betonen, die sie von feministischen und postmodernen Forschungstheorien erhalten hat, die das Objektivitätsparadigma und die Trennung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten erstmals in Frage stellten. In Bezug auf ihre Situation als Forscherin, Mutter, Tochter und Person auf dem Spektrum ist ihre buchstäblich eine „Sicht von vielen Orten“, die uns eine „neue Kategorie der Vielfalt“ beschert hat.
Wichtige Beiträge zum Konzept der Neurodiversität
Wenn wir jedoch über die Entstehung des Konzepts der Neurodiversität sprechen, sollten wir zumindest zwei amerikanische Journalisten erwähnen, die wichtige Beiträge geleistet haben. An erster Stelle ist hier Harvey Blume zu nennen, der zusammen mit Judy Singer den Begriff geprägt hat und als erster von „Neurodiversität“ gesprochen hat. Die australische Soziologin selbst erwähnt immer wieder den amerikanischen Journalisten, mit dem sie eine Freundschaft und Zusammenarbeit pflegte, die für die Entstehung des Konzepts innerhalb des InLv-Forums, dem auch Blume angehörte, sehr wichtig war. Eines der grundlegenden Verdienste des amerikanischen Journalisten, auf das sich Singer in ihrer These bezieht, besteht darin, dass er die Entstehung der Autistischen Gemeinschaft ausgehend von der Analogie zur Gehörlosengemeinschaft innerhalb der Behindertenrechtsbewegung identifizierte. In seinem berühmten Artikel von 1997 „Autism & the Internet“ oder „It’s the stupid wiring!„(Valtellina, 2020, S. 31) identifiziert er die Autistische Gemeinschaft nicht nur als eine Ansammlung von Menschen, die sich in ihrer Verdrahtung ähneln, sondern er geht noch ein wenig weiter als die einfache Computer-Metapher und stellt mit Nachdruck fest, dass „für viele Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung das Internet einfach wie die Blindenschrift ist“ und dass es genau diese Sprache ist, die es ihnen ermöglicht, „eines der Defizite der von Sacks definierten Triade zu umgehen: soziale Interaktion“ (Blume, 1997).
Eine zweite Erwähnung geht an Steve Silberman, der, stark beeinflusst von Judy Singer und Harvey Blume, entscheidend zur Verbreitung des Konzepts der Neurodiversität beigetragen hat, zunächst mit dem Artikel „The Geek Syndrome“ aus dem Jahr 2001 (Valtellina, 2020, S. 59) und dann durch den Bestseller „Neurotribù. Die Talente des Autismus und die Zukunft der Neurodiversität“. In diesen beiden Schriften zeichnet der amerikanische Journalist durch genaue Recherchen und Dokumentationen, ausgehend von dem angeblichen Phänomen einer nicht identifizierten „Autismus-Epidemie“, den Kern der autistischen Gemeinschaft bis zu den im Silicon Valley lebenden Geeks nach. Das Asperger-Syndrom oder die „Ingenieurstörung“ scheint bei den kreativen Genies des Silicon Valley, die die moderne Welt durch Computer- und Technologieerfindungen prägen, weit verbreitet zu sein. Diese Menschen erlangen auch ein beträchtliches wirtschaftliches und soziales Gewicht, und das alles weit entfernt vom Stereotyp des brillanten, aber praktisch unfähigen Autisten. Ein Beispiel dafür ist die jüngste Erklärung von Elon Musk (dem Tesla-Besitzer und einem der zehn reichsten Männer der Welt), der nicht nur erklärte, dass er ein Mensch des Autismus-Spektrums ist, sondern dass er gerade dieser neurologischen Vielfalt, dieser anderen Art zu denken, einen Großteil seines immensen Reichtums verdankt. Ein weiterer Beweis, wenn es denn eines Beweises bedurft hätte, dass „die Welt alle Arten von Köpfen braucht“ und damit auch Neurodiversität.
Schlussfolgerungen
Neben den klassischen Kategorien der Vielfalt wie Geschlecht, Religion und ethnische Zugehörigkeit taucht zunehmend das Konzept der Neurodiversität oder neurologischen Vielfalt auf. Dieses Konzept wird aus der Perspektive des bio-psycho-sozialen Modells grundlegend, um atypische Entwicklung und neurologische Entwicklungsstörungen in einem Rahmen zu verstehen, der sie nicht nur als Defizite, sondern als Abweichung und in einigen Fällen als eine echte Quelle von Ressourcen für die Menschheit als Ganzes betrachtet. Dieses Konzept sollte die Sozialwissenschaften und insbesondere die Psychologie bei der Erforschung des Individuums, seiner Entwicklung und seiner spezifischen kognitiven Funktionen unterstützen und die Pädagogik bei der Entwicklung von evidenzbasierten Erziehungsmethoden, die nicht mehr auf einer Norm beruhen, sondern die spezifische neurologische Vielfalt des Einzelnen respektieren. In der Rose der Wissenschaften fehlt zunehmend der grundlegende Beitrag der Soziologie und Anthropologie, und die Disability Studies beanspruchen immer mehr Raum. Letztlich kann nur ein spezifisches Verständnis der dem Individuum innewohnenden neurologischen Vielfalt selbst bei ausgeprägten Funktionsstörungen und schwerwiegenden neurologischen Entwicklungsstörungen die Instrumente bereitstellen, um jeden einzelnen Entwicklungsweg (ob neurodivergent oder neurotypisch) zu seinem maximalen Potenzial zu führen.
Literaturangaben
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- Blume H. (1997) «Autism & the Internet» o «it’s the wiring, stupid! Trad it. «L’Autismo & Internet» o «è il cablaggio stupido! in Valtellina E. (a cura di) (2020) L’autismo oltre lo sguardo medico, Erickson, pp. 29-43.
- Dewey J. (1938) L’unità della scienza come problema sociale. Trad. it. di Piero Lucisano in CADMO
- Grandin T. (1995) Thinking in pictures and other reports from my life with autism. Vintage books. Trad. It. (2001) Pensare in immagini e altre testimonianze della mia vita di autistica, Erickson
- Orsolini M. (a cura di) (2019) Pensando si impara. Stimolare l’attenzione, le funzioni esecutive e la memoria di lavoro nei bambini con bisogni educativi speciali, Franco Angeli.
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- Silberman S. (2015) NeuroTribes. The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity. Trad. It. (2016) NeuroTribù. I talenti dell’autismo e il futuro della Neurodiversità, Edizioni LSWR
- Singer J. (1998) Why can’t you be normal for once in your life? From a problem with no name the emergence of a new category of difference in M. Corker e S. French (a cura di) (1999), Disability discourse Open University French. Trad it. Perché non riesci a comportarti da persona normale, per una volta nella vita? Da un «problema senza nome» all’emergenza di una nuova categoria della differenza in Valtellina E. (a cura di) (2020) L’autismo oltre lo sguardo medico, Erickson, pp. 45-58.
- Singer J. (2016) Neurodiversity. The Birth of an Idea.
- Williams D. (1999) Nowbody Nowhere. The remarkable autobiography of an Autistic Girl. Jessika Kingsley Publisher. Trad. It (2002) Nessuno in nessun luogo, La straordinaria autobiografia di una ragazza autistica, Armando Editore.
Essential links
- https://neuropeculiar.com/2020/03/14/che-cose-la-neurodiversita/ (accessed 30 June 2021)
- https://www.inlv.org/inlv-historic.html (accessed 30 June 2021)
- https://www.repubblica.it/salute/2021/05/10/news/elon_musk_ho_la_sindrome_di_asperger_ecco_come_funziona_il_mio_cervello_-300318913/ (accessed 30 June 2021)
- https://neurodiversity2.blogspot.com (accessed 30 June 2021)
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